In der heutigen Zeit scheinen wir ruhebedürftiger als je zuvor, da uns das Leben in Beruf, Freizeit und Lebensgestaltung zu viel in zu kurzer Zeit abverlangt. Ein ständiger Drang nach
Optimierung, ein gehetzter Umgang mit Zeit sowie ein Überangebot an Konsummöglichkeiten bringen uns in einen innerlichen und äußerlichen „Tätigkeitswahn“, dessen größter Feind die Ruhe ist.
So ist es nicht verwunderlich, dass wir zu Multi- und Parallel-Taskern geworden sind und eine Lebensform entwickelt haben, die der artistischen Tellerjonglage gleicht. Auf der anderen Seite
meldet sich unser Ruhebedürfnis, doch findet der Wert der Ruhe in unserer Gesellschaft kaum Anerkennung, da mit Ruhe in der Regel Stillstand und fehlende Produktivität assoziiert werden.
Allerdings liegt hier ein Kardinalfehler im Denken vor, der den Wert der Aktivität verabsolutiert und einer reinen „Output-Mentalität“ verpflichtet ist. Friedrich Nietzsche (1844-1900) attestiert
den immer tätigen Menschen sogar Faulheit: Immer in einer Funktion und zu einem Zweck tätig, sind sie zu faul, sie selbst zu sein. Sie gleichen Steinen, die rollen oder Bienen, die durcheinander
fliegen. Angesichts der modernen Unruhe fordert Nietzsche vom Menschen mehr Muße, ein heute fast vergessenes Wort. Gemeint ist ein schöpferisches Nichtstun, währenddessen wir die Zeit als unsere
eigene erleben. Hierfür bedarf es einer wertschätzenden Auffassung von Muße und Ruhe als Vollendung und Vorbereitung der Aktivität. Dann wissen wir auch, wieviel wir von ihr brauchen.
© Dirk Büsken
In unserer Gesellschaft hat der Fehler kein besonders hohes Ansehen, er wird unhinterfragt als Mangel angesehen, als etwas, das der Korrektur bedarf. Ein Fehler im Diktat, eine fehlerhafte Steuererklärung, ein Kleidungsstück mit einem Fehler, ein fehlerhaftes Verhalten – hier wird schnell der Ruf nach „Richtigstellung“ laut. Eine derartige Forderung macht jedoch nur Sinn auf Basis einer Erwartung, die zur Norm erhoben worden ist. Unsere hypertechnisierte und komplexe Gesellschaft zeichnet sich in dieser Hinsicht durch eine hohe Erwartungshaltung, Normierungswahn und geringe Fehlertoleranz in allen Lebensbereichen aus. Natürlich machen strikte Erwartungshaltungen und Normierungen Sinn, wenn es um Risikofragen geht, die dem Menschen potenziell Schaden zufügen können. Hier wird der Fehler zu Recht als zu behebender Mangel stigmatisiert und angemahnt. Wie sieht es jedoch in anderen Lebensbereichen unseres Alltags aus, in denen von Fehlern die Rede ist? Brauchen wir eine andere Fehlerkultur?
„Du hast einen Schönheitsfehler.“ Diesen Satz möchte niemand über sich hören, da er eine ästhetische Schwachstelle in seiner ästhetischen Gesamterscheinung ausmacht. So entwickelt sich der Schönheitsfehler im Handumdrehen zum Zentrum eigener und fremder Wahrnehmung. Alles, was nicht Schönheitsfehler ist, mitunter auch Schönes, gerät an den Rand der Wahrnehmung. Das Wissen, dass man mithilfe ästhetischer Medizin, Fitnessstudio, Fitness-App, Make-up oder Fashion, kurz: mithilfe der unzähligen Möglichkeiten der „Fehler-Ausbesserungs-Industrie“ den Fehler beheben kann, bringt uns in ein Dilemma. Sind wir nicht dazu verpflichtet, Fehler zu beheben, weil wir es können? Hier kann uns die Philosophie mitunter beruhigen. Ironischerweise mit Verweis auf einen Fehlschluss, den wir möglichst vermeiden sollten: Aus einem Sein folgt nicht notwendig ein Sollen, so der berühmte „Sein-Sollen-Fehlschluss“, d.h. nur weil wir es könn(t)en, müssen wir uns nicht moralisch zum Ausbessern eines Fehlers verpflichtet fühlen. Das eigentliche Problem liegt allerdings tiefer, wenn wir das, was ist („wir haben die Mittel“) bereits als gut verstehen, ohne dass wir Sinn, Nutzen und Wert hinterfragen. Selbst gut gemeinte Dinge können uns auf einen falschen Weg bringen.
„Du hast einen Fehler begangen.“ Wer Fehler macht, ist fehlbar, er irrt sich, hat sein Ziel verfehlt, ist schuldig. Diese Ableitungen haben alle einen negativen Beigeschmack, sofern der Fehler als Defizit gedacht wird. Denkt man ihn als Voraussetzung, Lernansatz, Chance, Innovations- oder Kompensationsmöglichkeit - als Positivum -, dann wird der Fehler zu einem Mittel konstruktiver Wirklichkeitsbewältigung, das gerade im Verfehlen sein Ziel erreicht. Einen Fehler einzugestehen ist aus solcher Perspektive geradezu ein Lob an sich selbst. Allerdings ist Vorsicht geboten. Beim Eingestehen von Fehlern, die vorsätzlich begangen worden sind, hat das Eingeständnis häufig nichts mit ehrlicher Einsicht bzw. Reue zu tun, wie es uns Wirtschaft und Politik des Öfteren vormachen, wenn ein professionelles Fehlermanagement abgespult wird, um zu retten, was noch gerettet werden kann.
Wie kann also eine wirklich wertschätzende Fehlerkultur aussehen? Eine Fehlerkultur, die Menschen nicht nur als Leistungsmaschinen, die Fehler anderer nicht nur als eigenen Vorteil, die Perfektionismus als ein notwendig immer wieder scheiterndes Missverhältnis zur Realität sieht. Auf dieser Basis kann überhaupt erst Fehlertoleranz entwickelt werden. Sie bedeutet zu sehen, was da ist und nicht, was fehlt, sie bedeutet mehr Bescheidenheit im Umgang mit sich selbst und anderen, sie bedeutet weniger Angst vor Versagen. „Irren ist menschlich“ wusste schon der römische Philosoph Seneca, wir scheinen diese fundamentale Einsicht zwischenzeitlich vergessen zu haben.
© Dirk Büsken
Der Tod ist die unabdingbare Rückseite unseres Lebens, die – so lange wir leben – abwesend ist. Der griechische Philosoph Epikur (341-270 v. Chr.) sah darin einen Trost, der uns zu mehr Gleichmut
verhelfen kann: „Das schauerlichste Übel also, der Tod, geht uns nichts an; denn solange wir existieren, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, existieren wir nicht mehr." Das mag logisch
betrachtet zunächst überzeugen, gleichwohl ist der Tod gerade in seiner Abwesenheit, die zu einer unausweichlichen Anwesenheit wird, für viele bedrohlich.
Der Tod erscheint als bloße Negation von allem, was wir kennen, weder können wir ihn gestalten noch erfahren. Für den französischen Philosophen Jean-Paul Sartre (1905-1980) liegt der Tod zwar
außerhalb unserer Möglichkeiten, die Freiheit, unsere Existenz durch die Wahl unserer Handlungen zu entwerfen jedoch nicht. Dadurch sind wir in der Lage zu bestimmen, wer wir als Anwesende im
Leben sein wollen und damit auch, wer wir als Abwesende für unsere Nachwelt gewesen sein wollen.
Biologisch gesehen resultiert unsere Sterblichkeit aus der Tatsache, dass wir als menschlicher Organismus ein offenes, verletzliches System sind, das ein begrenztes Potenzial zellulärer
Erneuerung hat. Diese limitierenden Bedingungen unserer Existenz verleihen auf der anderen Seite dem menschlichen Leben erst seinen Wert und Sinn. Wären wir nicht sterblich, so gäbe es in unserem
Leben keine wahrhaftigen Anfänge, Neues oder Einmaligkeit mehr. Ein solches „erstarrtes“ Leben ähnelte dem, was wir Menschen gemeinhin am meisten fürchten: den Tod.
© Dirk Büsken
Diese Frage mit einem Ja zu beantworten ist ein durchaus waghalsiges Unternehmen angesichts der voluminösen Werke großer Denker der Philosophiegeschichte. Das Gedicht mit seiner überschaubaren
Anzahl an Zeilen muss sich jedoch gar nicht an seinem Umfang messen lassen, sondern seine Stärke besteht ja gerade in der maximalen sprachlichen Kompression eines Gedankens, einer Empfindung,
einer Situation. Sich kurz fassen zu müssen zwingt den Dichter unweigerlich, das Wesentliche zu sehen und sprachlich zu erfassen. Darin besteht durchaus eine Gemeinsamkeit mit dem Philosophen,
dessen Blick in der Erfassung des Wesens der Dinge in der Welt notwendig dem Wesentlichen gilt. Und sind es nicht gerade Philosophen, die Sprachbilder erschaffen, wenn sie bemerken, dass
begriffliche und analytische Schärfe in der Erklärung der Welt an Grenzen stösst?
Zurück zur Ausgangsfrage. Es ist unbezweifelbar, dass in Gedichten bisweilen philosophische Gedanken auftauchen, insofern sie die condition humaine zum Gegenstand haben und über Natur und Wesen
des Menschen reflektieren; neben Gedichten von Shakespeare und Goethe ließen sich unzählige weitere Beispiele finden. Aber Philosophie im Gedicht? Wenn wir von einem legitimen Zwischenraum von
Dichten und Denken ausgehen, dann „passt“ auch Philosophie in ein Gedicht, sofern folgende Bedingungen hinzugefügt werden: Erstens muss die philosophische Verpflichtung zur Wahrheit auch die
Verkündung des Unwahren oder nur Möglichen beinhalten. Zweitens muss davon ausgegangen werden, dass eine reine „Buchstabenphilosophie“ unter Vernunftherrschaft der Wahrheit näher ist, wenn sie
ästhetisch erweitert wird. Beides kann das Gedicht leisten und im somit etablierten Zwischenraum philosophischer Lyrik philosophische Gedanken anstoßen, welche gleichermaßen die Vernunft und das
ästhetische Empfinden des Lesers ansprechen.
Es gibt im Verhältnis wenige Philosophen, die sich als Lyriker versucht haben. Zu ihnen gehört der wortgewaltige Philosoph Friedrich Nietzsche (1844-1900), dessen ungewöhnlicher Schreibstil in
seinen philosophischen Hauptwerken ihn als Dichter und Denker par excellence erscheinen lässt. Sein lyrisches Werk ist zwar einer breiten Öffentlichkeit weniger bekannt, doch auch hier vereint er
dichterisches und philosophisches Talent. Sein Gedicht ,Welt-Klugheit‘ thematisiert den Wert der Mitte für die kluge Erkenntnis der Welt: Bleib nicht auf ebnem Feld! - Steig nicht zu hoch hinaus!
- Am schönsten sieht die Welt - Von halber Höhe aus. Gleichwohl hier der Sehsinn angesprochen wird, kannt vermutet werden, dass Nietzsche das Denken meint. Das Sehen hält, anders als das Hören
oder Schmecken, die Welt auf Distanz und doch bringt es dem Sehenden die Welt nahe. Gleiches vollzieht das denkende Erkennen, indem es sich „auf halber Höhe“ in Distanz zu den Dingen der
Welt begibt und dennoch die Anbindung an die zu erkennende Welt behält („nicht zu hoch hinaus“). Eine kluge und im geschaffenen Bild ebenso anmutende Welt-Sicht, die zusammen mit dem Versmaß des
Gedichts eine „Musik des Denkens“ schafft, die den oben genannten philosophisch-lyrischen Zwischenraum gehaltvoll ausfüllt. So mag der französische Philosoph und Schriftsteller Alain (1868-1951)
durchaus Recht gehabt haben, als er sagte: „Jeder Gedanke beginnt mit einem Gedicht.“ Sein Landsmann Jean-Paul Sartre (1905-1980) stellte darüber hinaus fest: „Es gibt in der Philosophie immer
(...) eine Ambivalenz der Begriffe.“ In dieser Hinsicht erscheint die Nachbarschaft von Philosophie und Gedicht gerechtfertigt und aussichtsreich.
© Dirk Büsken